20.04.2018
Mithilfe eines vom Bundesarbeitsministerium geförderten Projekts hat sich ein fränkisches Textilunternehmen auf künftige Herausforderungen eingestellt. Das Ergebnis: Viele Beschäftigte sind breiter qualifiziert, ihre Arbeit ist vielfältiger – und der Krankenstand hat sich erheblich verringert.
Die
Textil- und Bekleidungsbranche in Deutschland steht vor großen
Herausforderungen durch demografischen Wandel, technologische Veränderungen und
Auswirkungen der Globalisierung. Um diese Aufgaben anzupacken, beteiligte sich
das Unternehmen Neutex aus Münchberg in Oberfranken an dem vom
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) geförderten Projekt
textil-fit. Über die dabei gesammelten Erfahrungen sprach „etem“ mit dem
Technischen Leiter Andreas Peter und Sicherheitsfachkraft Martin Günther.
? Warum hat sich die Firma Neutex am INQA-Projekt textil-fit beteiligt?
Andreas Peter:
Der Altersdurchschnitt unserer Belegschaft liegt über dem Bundes- und
Branchendurchschnitt. Zusätzlich hatten wir zu diesem Zeitpunkt mit einem
überdurchschnittlichen Krankenstand zu kämpfen. Die aktuelle Lage auf dem
Arbeitsmarkt macht es schwer, geeignete Fachkräfte zu rekrutieren. Alle diese
Auf-gaben wollten wir damals ohnehin anpacken. Da kam das „textil-fit“-Projekt
genau zum richtigen Zeitpunkt.
Martin Günther: Und wir wollten unsere Gefährdungsbeurteilung um
Belastungsaspekte erweitern. Über das Institut BIT e.V. stand uns hierzu eine
sehr qualifizierte Beratung zur Verfügung. Ohne diese Unterstützung wäre uns
das viel schwerer- gefallen.
? Wie lief das Projekt
im Einzelnen ab?
Peter:
Gemeinsam mit den Beratern von BIT haben wir ein Team gegründet. Im ersten
Schritt wurden dann die Teilnehmer des BIT-Teams und die Führungskräfte
qualifiziert, eine Altersstrukturanalyse durchgeführt und eine
Qualifikationsmatrix aufgestellt. In einem weiteren Schritt haben wir dann die
Belastung und Arbeitsgestaltung in den einzelnen Bereichen betrachtet. Hier
wurden alle Mitarbeiter aktiv einbezogen.
Günther:
Als sehr nützlich bei der Bewertung der Arbeitsvorgänge haben sich die
Videoaufnahmen erwiesen. Diese wurden gemeinsam mit den Mitarbeitern
ausgewertet. Die Mitarbeiter haben sich erstmals im Arbeitsablauf selbst
gesehen. Dabei ist auch ihnen einiges an Verbesserungsmöglichkeiten
aufgefallen. Viele kleine Verbesserungen, die der Entlastung dienen und die
teilweise gleichzeitig die Effektivität erhöhen.
? Sie haben die Altersstruktur analysiert. Was hat das gebracht?
Peter:
Es geht nicht nur um die Altersstruktur. Wichtiger Teil des Projektes war die
Aufstellung einer Qualifikationsmatrix. Durch Abgleich mit der Altersstruktur
sind die Arbeitsbereiche deutlich geworden, in denen vorrangiger Bedarf für
eine Erfahrungsweitergabe besteht.
Günther: Für die Qualifikationsmatrix wurden die Mitarbeiter gefragt, welche Arbeitsvorgänge sie nach eigener Einschätzung bereits beherrschen, aber auch für welche Arbeitsvorgänge sie sich gerne qualifizieren möchten. Parallel wurde die Einsetzbarkeit von den Vorgesetzten bewertet. Durch den Abgleich zwischen Fremd- und Selbsteinschätzung und unter Berücksichtigung der Qualifizierungswünsche konnten wir die Einsetzbarkeit der Belegschaft deutlich erweitern.
Peter: Dies ermöglicht eine belastungsorientierte Rotation. Die Arbeit wird abwechslungsreicher, weniger eintönig. Das kommt dem psychischen Befinden der Mitarbeiter zugute. Und natürlich ist das sehr nützlich für den Erfahrungserhalt und die Erfahrungsweitergabe unserer Produktionsschritte.
? Wie haben die Mitarbeiter diese Veränderung aufgenommen?
Günther:
Die Vorteile werden nicht von jedem Mitarbeiter so gesehen. Manche ziehen einen
möglichst einfach strukturierten Arbeitstag der Abwechslung vor. Das müssen wir
akzeptieren und Geduld haben. Denn wir haben die Erfahrung gemacht, dass die
Vorteile auch diesen Mitarbeitern im Laufe der Zeit deutlich wer-den. Besser
man ist für mehrere Aufgaben präpariert, als dass man unvorbereitet bei einem
akuten Engpass aushelfen muss. Man entwickelt Verständnis für die Vor- und
nachgelagerten Arbeitsschritte, z. B. warum der vorgelagerte Arbeitsbereich
keine größeren Warenrollen liefern kann. Der Blick über den Tellerrand birgt
Potenzial für viele kleine Erleichterungen und Verbesserungen.
? Hat das Projekt
messbare Verbesserungen gebracht?
Peter:
Der Krankenstand hat sich deutlich reduziert. Im Vergleich zum Jahr 2015 haben
wir einen Rückgang von 29 Prozent erreicht! Das haben wir den verringerten
Belastungen an vielen Arbeitsplätzen zu verdanken, aber auch unserem
betrieblichen Wiedereingliederungsmanagement.
? Ein betriebliches Wiedereingliederungsmanagement (BEM) hatten
Sie aber doch vorher auch schon?
Peter:
Natürlich, aber die Mitarbeiter hatten Vorbehalte. Durch „textil-fit“ bekamen
wir die richtigen Impulse für eine nachhaltige Wiedereingliederungsarbeit,
unser BEM ist durch „textil-fit“ in Schwung gekommen. Durch die erzielten
Entlastungen an einzelnen Arbeitsplätzen, Rotationsmöglichkeiten und breitere
Einsetzbarkeit der Mitarbeiter haben sich die Möglichkeiten für unser BEM sehr
verbessert.
Günther:
Wir haben die Abläufe transparent gemacht und bei den Mitarbeitern für das BEM
geworben. Viele Beschäftigte haben dadurch erfahren: „Das BEM-Team besteht aus
Kollegen, die es gut mit mir meinen“. Und wenn ich weiß, welche Möglichkeiten
es hinsichtlich Arbeitsdauer, Schichteinteilung oder mögliche Einsatzbereiche
gibt, baut das Hürden ab. Nicht selten kann man bei dieser Gelegenheit auch
arbeitsbedingten Belastungen auf den Grund gehen und Verbesserungen ableiten.
? Sie haben die Arbeitsgestaltung verbessert, die Einsatzbreite der Mitarbeiter erweitert, die Mitarbeiter für Verbesserungen sensibilisiert. Wie geht es weiter?
Peter:
Ausruhen werden wir uns nicht, wir machen weiter. Der eingeschlagene Weg ist
eine gute Möglichkeit der kontinuierlichen Weiterentwicklung. Derzeit sind wir
z. B. dabei, die Beleuchtung auf LEDs um-zustellen. Damit können wir die Arbeitsplätze
altersgerecht heller ausleuchten – bei gleichzeitiger Einsparung von Energie
und Wartungsaufwand.
Günther: Das Team trifft sich auch ohne BIT weiterhin regelmäßig, um Verbesserungen zu beraten. Der Name BIT-Team hat sich übrigens eingeprägt und bleibt uns erhalten. Verbesserungsvorschläge der Mitarbeiter werden oft mit den Worten eingeleitet „Du bist doch im BIT-Team ...“.
Das Gespräch führte Martin Steiner.
Informationen:
Neutex
Die 1955 gegründete Neutex ist seit 1963 ein Unternehmen der Hoftex Group
AG. Der Textilbetrieb stellt am Standort Münchberg mit ca. 160 Beschäftigten
Dekostoffe, Fertiggardinen, Kissen, Gewebe für den Sonnenschutz und technische
Textilien her. Im Betrieb sind die Produktionsstufen Schärerei, Weberei
(Jacquard/Schaft), Garn- und Stückfärbung sowie diverse Veredelungsschritte
vorhanden. Im Werk in Rumänien werden mit ca. 90 Mitarbeitern Fertiggardinen
konfektioniert.
INQA-Projekt textil-fit Im Jahr 2014 wurde das Projekt „textil-fit“ gestartet, um den Betrieben der Branche bei der Bewältigung des demografischen Wandels Unterstützung zu bieten. Es wurde vom Berufsforschungs- und Beratungsinstitut für interdisziplinäre Technikgestaltung e.V. (BIT e.V.) durchgeführt und im Rahmen der Initiative neue Qualität der Arbeit (INQA) vom BMAS finanziert. Die IG Metall und der Gesamtverband textil+mode unterstützten das Projekt gemeinsam als Kooperationspartner. „textil-fit“ wurde im April 2017 abgeschlossen. Projektinfos und Abschlussbericht unter www.textil-fit.de